Der 5. Mai ist der Europäische Protesttag der Menschen mit Behinderung. In diesem Jahr nutzen wir diese Gelegenheit, um auf die aktive und passive Teilhabe an politischen Prozessen aufmerksam zu machen. Denn Politische Partizipation ist ein wesentliches Merkmal zur Äußerung und Wahrnehmung der eigenen Stimme und zur Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen im Kleinen wie im Großen.
Jeder soll dieses Recht für sich beanspruchen können. Dafür steht unser Protest und unsere Aktion.
Heute stellen wir euch Dennis Sonne vor, der am 15. Mai für den Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kandidiert. Dennis Sonne hat eine Behinderung, ist seit Jahren politisch aktiv und bringt behinderten-politische Themen voran. Einige von euch werden Dennis Sonne kennen. Bekannt wurde er als Deutsch-Rapper "Sittin’ Bull". Jetzt kandidiert er als Mensch mit Behinderung für den Landtag in NRW.
Aber lest selbst.
Interview Dennis Sonne
Stellen Sie sich doch bitte einmal kurz vor.
Ich bin 38 Jahre alt, lebe im Münsterland und setze mich seit Jahren auf unterschiedlichen Ebenen für Inklusion ein. Begonnen habe ich damit auf musikalischer Ebene im Deutsch-Rap-Bereich. So habe ich mir kurz nach meinem Unfall im Jahr 2004 den Namen „Sittin´ Bull“ gegeben. Zwei Studioalben, dutzende Songs und Musikvideos, sowie Live-Auftritte sind das Resultat. Ich habe mich dann dazu entschlossen inklusive Projekte aus meiner Musikleidenschaft heraus zu gestalten, wie zum Beispiel Hip-Hop-Workshops mit meinem mobilen Tonstudio. So habe ich diverse Male gezeigt, dass Musik-Produktion Kraft geben kann und auch andere motivieren kann selbst in diese Richtung aktiv zu werden. Das hat mich auf der anderen Seite wiederum selbst motiviert weiterzumachen.
Wie kam es zum Entschluss, sich politisch zu engagieren? Gab es eine Art Schlüsselmoment?
Da meine Eltern bereits in den 90ern aktive Grüne-Parteimitglieder waren und ich auch keine Partei kennengelernt habe, die in ihren Bestrebungen zur Inklusionspolitik den Grünen gleichkommt, bin ich 2011 selbst Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen geworden. Inklusion kann nur gelingen, wenn die Menschen - die betroffenen Menschen - selbst aktiv an den politischen Prozessen beteiligt sind. Dafür will ich sorgen. Viele Jahre habe ich mich über den Umgang mit Inklusion, Barrierefreiheit und der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geärgert. Das tut wahrscheinlich jeder Mensch mit Behinderungen aber nicht jeder Mensch mit Behinderungen hat die Möglichkeit sich aktiv einzubringen. Das mache ich seit einigen Jahren auf kommunaler Ebene. Jetzt will ich jedoch in den Landtag, um auch hier als Experte in Sachen Inklusion die Herausforderung einer inklusiven Gestaltung NRWs nach vorne bringen.
Skizzieren sie doch bitte einmal kurz Ihren politischen Werdegang.
Parteimitglied Bündnis 90/Die Grünen seit 2011. Seit 2015 sachkundiger Bürger der Stadt Lüdinghausen. Seit 2017 Stadtratsverordneter der Stadt Lüdinghausen. Seit 2020 Vorsitzender des Ausschusses für Bildung und Kultur der Stadt Lüdinghausen.
Wie sieht es allgemein mit den Partizipationsmöglichkeiten behinderter Menschen im Bereich Politik aus? Was gibt es noch zu tun?
Menschen mit Behinderungen müssen mehr Möglichkeiten erhalten sich politisch zu engagieren. Jede Kommune kann dies unterstützen indem Beiräte geschaffen werden. Ein Inklusionsbeirat zum Beispiel besteht aus „Expert*innen in eigener Sache“. In diesem politischen Gremium können sich Menschen mit Behinderungen einbringen und die städtischen Verwaltungen beraten, bei Entscheidungen unterstützen oder selbst Anträge stellen, die in den Fachausschüssen behandelt werden. Das ist die einfachste Möglichkeit einen bisher unterpräsentierten Teil der Gesellschaft einzubinden. Allerdings ist es oft nicht gewollt solch ein Gremium zu installieren. Aktuell ist es so, dass ein*e Bürger*in oder eine Partei einen Antrag stellen muss, damit die Verwaltung einen Beirat installiert. Das wird aber oft geblockt, wie zuletzt in Lüdinghausen. Seniorenbeiräte sind häufiger in den Städten zu finden. Inklusionsbeiräte oder auch Jugendbeiräte selten. Woran das liegt? Ich denke, dass es hier wie so oft an Vorurteilen liegt. Menschen mit Behinderungen, wie auch jungen Menschen wird zu wenig zugetraut. Und da kommt der Landtag ins Spiel. Der Landtag muss sich für mehr Demokratie und Partizipation einsetzen und die Schaffung solcher Beiräte unbedingt fördern und fordern. Das werde ich vorantreiben.
Kann man sagen, dass Sie als Politiker mit Behinderung eine „Rarität“ sind? Wie wird Ihnen begegnet?
Ich sehe leider selten Politiker*innen, die offensichtliche Behinderungen haben. Dabei sollten unsere politischen Vertreter*innen ein Spiegel der Gesellschaft sein. Und da sollten die Parteien selbst auch aktiv werden. Es gibt bei uns Grünen beispielsweise ein Frauenstatut, welches besagt das Frauen gewisse Vorteile oder Ausgleiche haben. Beispielsweise die Mindesquotierung, wozu die Besetzung von Listen oder Ausschüssen mindestens zur Hälfte mit Frauen oder auch der Anteil an Redebeiträgen von Frauen bei politischen Veranstaltungen gehören. Das finde ich gut und da stehe ich hinter, denn wenn man sich andere Parteien anschaut, bei denen fast nur Männer aktiv sind, muss auffallen, dass etwas nicht richtig läuft. Ich wünsche mir allerdings mehr Vielfaltsstatute. In NRW leben knapp 10 Prozent der Bürger*innen mit Behinderungen, also jede*r zehnte von uns. Wenn ich auf der anderen Seite dann sehe, dass im Landtag kein Mensch mit einer offensichtlichen Behinderung arbeitet und für die Belange von Menschen mit Behinderungen authentisch einsteht, verstehe ich dies nicht. Da muss sich etwas ändern. Und möglicherweise bin ich ab dem 15. Mai das Gesicht und die Stimme für diese Bevölkerungsgruppe.
Werden Sie von anderen auf behindertenpolitische Themen reduziert?
Ja, das kommt vor. Allerdings muss ich dann nur noch müde lächeln. Ich habe in den vergangenen Jahren bei Projekten mitwirken dürfen, die so viel bewirkt haben und nicht nur Menschen mit Behinderungen betreffen. Zum Beispiel im vergangenen Jahr, ein inklusiver Sportpark, der täglich von Menschen mit und ohne Behinderungen stark besucht wird. Die Menschen begreifen mehr und mehr, dass Inklusion jede*n betrifft. Bei jedem politischen Bereich, wie Bildung, Arbeit, Wohnen, Bauen, Verkehr, Kultur, Digitalisierung usw. ist Inklusion ein wichtiger Faktor. Des Weiteren gehören auch weitere soziale Themen zu meiner Politik. Gleichberechtigung, Teilhabe und Vielfalt strebe ich für unsere gesamte Gesellschaft und alle Menschen an. Ich möchte für alle Menschen einstehen, die bisher unterpräsentiert sind und deshalb oftmals vergessen oder an den Rand gedrängt werden. Damit sind nicht ausschließlich Menschen mit Behinderung angesprochen. Und natürlich spielt Soziales auch eine wesentliche Rolle in der Klimapolitik.
Wofür stehen Sie? Was wollen Sie bewegen?
Ich stehe (oder besser sitze) für Veränderung und für kreative Ideen. Ich will authentische Politik machen. Ich werde dafür sorgen, dass Inklusion und Barrierefreiheit in unserem Bundesland einen höheren Stellenwert erhalten. Ich stehe für Politik auf Augenhöhe und für Partizipation, weil ich erkannt habe, dass es ohne die Menschen, um die es geht, nicht funktioniert. Ich möchte alle Menschen teilhaben lassen. Daher werde ich mich stark für Bürgerbeteiligung einsetzen.
Was könnte dafür getan werden, um Stigmatisierungen zu mindern/beseitigen, damit offener und selbstverständlicher mit dem Thema Behinderungen umgegangen wird? Was wäre hilfreich?
Wir machen in Deutschland immer noch das, was wir seit den 50er Jahren machen. Wir schließen die Menschen, die laut irgendwelcher „Idealvorstellungen“ nicht in unsere Gesellschaft passen, aus eben dieser aus. Menschen mit Behinderungen werden zentralisiert, werden „weggesperrt“. Menschen werden in Förderschulen und Werkstätten gesteckt, haben keine Perspektive nach „mehr“ und sind nicht Teil der Gesamtgesellschaft. Wenn diese Menschen nicht sichtbar sind, bleiben diese Menschen stigmatisiert. Aus diesem Grund ist es notwendig etwas an dem aktuell herrschenden System zu verändern. Die alten Strukturen müssen neu gedacht werden. Ein „weiter so“ ist nicht akzeptabel, weil genau das auf die Schultern, dieser Menschen lastet. Und nicht nur auf den Schultern der Menschen mit Behinderungen, sondern ebenfalls auf den Schultern der Menschen ohne Behinderungen. Von einer vielfältigen, bunten Gesellschaft profitiert die Gesamtgesellschaft. Dazu muss die Politik neu denken und sich etwas neues wagen.
Wo stehen wir in fünf Jahren in Bezug auf selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen?
Wenn sich in den nächsten Jahren mehr auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention konzentriert wird, werden wir weiter sein auf dem Weg in ein vielfältiges und wertschätzendes Land. Das hat aber auch damit was zu tun, wie sich das Parlament in Nordrhein-Westfalen nach der Wahl am 15. Mai zusammensetzt. Und das hängt von den Wahlergebnissen und dem Erfolg, der Parteien ab, die Inklusion und die Umsetzung der UN-BRK verfolgen. Für NRW kann dieses Ziel ein Leuchtturmprojekt sein. Andere Länder können unserem Beispiel folgen und der Weg zu einem selbstbestimmten Leben für jeden bereiten. Ich werde die nächsten Wochen weiterhin viel dafür arbeiten, Teil des neuen Landesparlaments zu werden und so Menschen eine Stimme und ein Gesicht zu geben.
Vielen Dank für das Interview.
- Disclaimer
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Die Statements der Politiker*innen decken nicht die Positionen der gesamten Parteienlandschaft ab. Inhaltliche Verantwortung liegt bei den Parteien – nicht bei den Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben (KSL.NRW).
Sich einzumischen, die Stimme zu erheben und sich zu äußern, sind immens wichtig, wenn sich auf der behindertenpoliitschen Ebene etwas verändern soll. Dennis Sonne nimmt sein aktives Wahlrecht in Anspruch. Und wir brauchen auch noch weitere Menschen mit Behinderungen, die sich aktiv in die Politik einmischen. Aber nicht immer braucht es die aktive Wahrnehmung. Die Ausübung des passiven Wahlrechts ist genauso wichtig. Ihr wisst noch nicht, wie das geht? Dann haben wir hier ein Erklärvideo für Euch.
- Erklärfilm der KSL zur Landtagswahl 2022
Und hier gibt es noch mehr Informationen zu Wahlen allgemein und insbesondere zur Landtagswahl in NRW am 15. Mai.