Zahl der Beratungsanfragen legt um 78 Prozent zu
Im Jahr 2020 ist die Zahl der Beratungsanfragen bei der Antidiskriminierungsstelle im Vergleich zum Vorjahr so stark gestiegen wie nie zuvor. Insgesamt hat die Stelle im vergangenen Jahr in 6383 Fällen rechtliche Auskunft erteilt, Stellungnahmen eingeholt oder gütliche Einigungen vermittelt. Damit ist die Gesamtzahl der Anfragen im Vergleich zum Vorjahr um 78,3 Prozent gestiegen (2019: 3580 Fälle). Vor allem die Zahl der Anfragen zu Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft bzw. aus rassistischen Gründen nahm mit 2101 Anfragen im Vergleich zu 1176 Anfragen im Jahr 2019 deutlich um 78,7 Prozent zu. Auch bei den anderen geschützten Merkmalen gab es teils signifikante Steigerungen. Überdies kam es zu einem Sondereffekt im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Hier zählte die Antidiskriminierungsstelle 1904 Anfragen, die in direktem Bezug zur Pandemie stehen, darunter in der Mehrzahl Anfragen zur Maskenpflicht. Das geht aus dem Jahresbericht 2020 der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hervor, den ihr kommissarischer Leiter, Bernhard Franke, am Dienstag in Berlin vorgestellt hat.
„Einen derart drastischen Anstieg der Beratungsanfragen haben wir noch nie erlebt. Der Trend der Zunahme insbesondere von Beschwerden rassistischer Diskriminierungen hat sich im Jahr des schrecklichen Anschlags von Hanau und der Black-Lives-Matter-Proteste noch einmal verstärkt. Zugleich erleben wir einen besonderen Effekt der Corona-Pandemie, die mit einem weiteren Anstieg der Beratungsanfragen einherging. Vielen anderen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Antidiskriminierungsstellen ging es ähnlich. Das führte dazu, dass wir unsere telefonische Beratung wegen der hohen Zahl der Anfragen vorläufig einstellen mussten – Ratsuchende können sich derzeit nur über unser Beratungsformular oder schriftlich an uns wenden. Wir beobachten ein gestiegenes gesellschaftliches Bewusstsein für Diskriminierung. Immer mehr Menschen suchen sich aktiv qualifizierte Beratung“, sagte Franke.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes berät Menschen, die aufgrund der ethnischen Herkunft, Religion, Weltanschauung, sexuellen Identität, des Alters, einer Behinderung oder des Geschlechts im Arbeitsleben oder bei Alltagsgeschäften benachteiligt worden sind. Etwa 41 Prozent der Beratungsersuchen an die Antidiskriminierungsstelle im Jahr 2020 bezogen sich auf das Merkmal „Behinderung und chronische Krankheiten“. In absoluten Zahlen entspricht dies 2.631 Fällen. Damit hat sich deren Zahl im Vergleich zum Vorjahr fast verdreifacht. „Das ist in erster Linie auf Anfragen zum Mund-Nasen-Schutz zurückzuführen, die diesem Merkmal zugeordnet wurden. Viele Menschen mit Behinderung hatten hier konkrete Fragen zum Diskriminierungsschutz. Leider wurden die oft nachvollziehbaren Anliegen von Menschen mit Behinderung, die keine Masken tragen konnten, von so genannten Corona-Leugner*innen mit teils zweifelhaften medizinischen Attesten in Misskredit gebracht“, sagte Franke. Dies hätte dazu geführt, dass auch Menschen mit Behinderung, die keine Maske tragen können, pauschal der Zutritt zu Geschäften verwehrt wurde. „Wichtig sind hier auf den Einzelfall zugeschnittene Lösungen und Maßnahmen, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen eingehen – etwa, indem Einkäufe nach draußen oder nach Hause gebracht werden“, sagte Franke. Sachliche Gründe wie der Gesundheitsschutz und der Schutz der Beschäftigten beispielsweise in einem Supermarkt könnten Benachteiligungen aufgrund einer Behinderung durch die Maskenpflicht im Einzelfall grundsätzlich rechtfertigen.
Die Pandemie war nicht der einzige Faktor, der 2020 zum deutlichen Zuwachs bei den Anfragen beigetragen hat. Auch die Beratungsanliegen ohne inhaltlichen Bezug zur Pandemie sind um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen. Die Zahl der Anfragen im Zusammenhang mit rassistischer Diskriminierung machte 2020 ein Drittel (33 Prozent) aller Anfragen aus. Am dritthäufigsten haben sich mit 17 Prozent Menschen an die Antidiskriminierungsstelle gewandt, weil sie sich aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert sahen. Beratungsanfragen, in denen es um Diskriminierung wegen des Lebensalters (9 Prozent), wegen der Religion oder Weltanschauung (5 beziehungsweise 2 Prozent) oder wegen der sexuellen Identität (4 Prozent) ging, folgen anteilsmäßig.
Diskriminierungserfahrungen wurden vornehmlich im Arbeitsleben (23 Prozent) und beim Zugang zu beziehungsweise bei der Inanspruchnahme von Gütern und Dienstleistungen gemeldet (40 Prozent). Dabei hat sich das Verhältnis im Vergleich zum Vorjahr in etwa umgekehrt (2019: 36 Prozent das Arbeitsleben betreffend und 26 Prozent den Bereich „Güter und Dienstleistungen”). In mehr als einem Drittel der Fälle (37 Prozent) hat sich die Diskriminierung in einem Lebensbereich abgespielt, der nicht oder nur teilweise vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geschützt ist. Dazu gehört zum Beispiel der größte Teil des Bildungsbereichs, das gesamte Feld des staatlichen Handelns, aber auch etwa der öffentliche Raum oder soziale Medien.
Die Antidiskriminierungsstelle kündigte als Konsequenz aus den deutlich gestiegenen Anfragen die Einrichtung einer Servicestelle mit einem ausgeweiteten, neuen telefonischen Beratungsangebot ab Juli an. Das wurde durch eine zwischenzeitliche Aufstockung des Personals möglich, erklärte Franke: „Wir können damit in Zukunft mehr Menschen Beratung anbieten und unsere juristische Beratung intensivieren. Genauso wichtig wäre aber auch ein Ausbau zivilgesellschaftlicher Beratungsangebote und die Einrichtung von Antidiskriminierungsstellen in allen Ländern.“ Franke rief überdies den Bundestag auf, die im Maßnahmenpaket des Kabinettsausschusses gegen Rechtsextremismus und Rassismus angekündigte Verlängerung der Anspruchsfristen von zwei auf sechs Monate rasch anzugehen. „Menschen, die Diskriminierung erleben, brauchen Zeit, um sich zu wehren und Ansprüche geltend machen zu können“, sagte Franke.
Seit dem Jahr 2019 veröffentlicht die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Jahresberichte über ihre Tätigkeit. Diese ergänzen den umfassenden Bericht an den Bundestag , den die Stelle einmal in jeder Legislaturperiode gemeinsam mit den Beauftragten für Menschen mit Behinderungen und für Migration, Integration und Flüchtlinge sowie anderen zuständigen Beauftragten dem Parlament übermittelt.
Den Jahresbericht finden Sie hier.